über Gott nichts mehr sagen können F: explizit.net, E.B.

Kirchenmitgliedschaft: ein Auslaufmodell?

Die Kirchen befinden sich im freien Fall. Zweidrittel der Evangelischen und Dreiviertel der Katholiken sind auf dem Weg zum Kirchenaustritt. Nur ein geringer Teil der Kirchenmitglieder betet noch oder liest in der Bibel. Ist die Religion auf dem Rückzug oder ist die Kirchenmitgliedschaft für die eigne Religiosität nicht mehr gefragt?

Die Evangelische Kirche hat, unter Beteiligung der katholischen Bischofskonferenz eine Befragung durchgeführt. Kirchenmitgliedschaft ist für die Mehrheit der Kirchenmitglieder obsolet? Was ist dann mit der Religion, für die die Kirchen bisher das Monopol hatten und das der Islam ihnen nicht nehmen kann. Ordnet sie sich neu oder verschwindet sie. Das wird von Kirchenleuten wie Journalisten einfach aus den Daten abgeleitet. Das geben die Daten jedoch nicht her. Die Befragten geben ja nicht Auskunft über ihre Vorstellung von der Welt, sondern regieren auf Fragen, die die Kirchen formuliert haben. Es könnten die falschen Fragen sein. die über 500 Fragen geben daher nur Auskunft über beide Kirchen: Diese werden noch viele Mitglieder verlieren, vielleicht bleibt ein Rest – oder Religion könnte sich, was Kirchenkritiker sich schon seit 200 Jahren wünschen, anders organisieren.

Die Ergebnisse der Untersuchung sind übersichtlich und mit Grafiken unter dem Titel KMU, Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zusammengestellt. https://kmu.ekd.de/

Die Vorstellungen von Gott

Die zentrale Frage, wie die Menschen sich Gott vorstellen, erbrachte folgende Selbsteinschätzung der 5282 Befragten. Sie haben die für die Kirchen zentralen Fragen so angekreuzt:

19% Ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gibt.  

29% Ich glaube, dass es ein höheres Wesen oder eine geistige Macht gibt.

20% Ich weiß nicht richtig, was ich glauben soll.

33% Ich glaube nicht, dass es einen Gott, irgendein höheres Wesen oder eine geistige Macht
        gibt.

Nur noch 19% können sich mit dem identifizieren, was die Kirchen über ein höheres Wesen vermitteln. 29 % gehen davon aus, dass es ein solches Wesen gibt, können aber ihre religiösen Vorstellungen, ihre Ahnungen, dass es mehr gibt als das, was den Alltag bestimmt, nicht mehr mit den Kirchen in Zusammenhang bringen. Hinzu kommen auch die 20%, die das Statement „Ich weiß nicht so richtig ..“ ankreuzen
Diese Ergebnisse sind in Bezug auf die Kirchen eindeutig. Sie können nicht mehr bestimmen, wie man sich Gott und seine Beziehung zu den Menschen vorzustellen hat. Auch die Mehrheit der Kirchenmitglieder findet in den Gottesdiensten nicht mehr das, warum für frühere Generationen der Kirchgang selbstverständlich war. Es gibt auch keine andere Institution, die eine religiöse Vorstellung anbietet, mit der die Mehrheit der Deutschen sich identifizieren könnten. Der Marxismus als letzter Großversuch, mit dem Materialismus eine Weltsicht zu etablieren, hat schon länger ausgedient. Der Islam hat nach der Umfrage ähnlich viele Distanzierte wie die Kirchen. Die Studie stellt erst einmal nicht fest, dass die Religiosität „verdunstet“, sondern nur, dass die Kirchen die Menschen mit ihrer Deutung nicht mehr erreicht.

Ein Fragebogen kommt nicht an die Religiosität heran

Methodische Grenzen des Fragebogens: Die Methodik, 5.000 Bürger zu befragen, zwingt zu Fragebögen, die nur ein Ankreuzen von vorformulierten Fragen ermöglichen. Damit kommt man aber nicht an die tatsächlichen religiösen Fragen heran. Dafür muss man einfühlsame, längere Gespräche ohne vorgegeben Formulierungen führen. Non-direktive Interviews wird diese Methodik genannt.

Die Frage zur Kirchenmitgliedschaft ist zu „churchy“ formuliert: Die Kirchenmitgliedschaft wird mit einem Ja zu dieser Formulierung erhoben:

    „dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gibt.“ 

Nach meiner Erfahrung geht „zum Glauben kommen“ heute anders. Die Menschen, die ich zur Taufe begleitet habe, würden diese von Theologen formulierte Aussage als fremd empfinden. Sie nähern sich nicht mit einem durchformulierten theologischen Satz dem Glauben, sondern mit Ahnungen und aus der Reflexion auf tiefgehende Erfahrungen. Ob sie die Kirchen auf diesem Weg als hilfreich erleben, ist nach den Ergebnissen der Umfrage zu bezweifeln. Auch setzen die Gottesdienste beider Kirchen Menschen voraus, die diese Predigten hören und diese Lieder singen wollen.

Zuerst eine Geisterfahrung, dann die Erkenntnis Christi: Aus kirchlicher Sicht sind solche Lehrsätze notwendig, damit sich nicht nur die Theologen, sondern auch die Gläubigen auf Inhalte einigen. Das führt zum Glaubensbekenntnis. Aber jeder und jede, auch die Theologen müssen bis zu solchen Sätzen einen Weg zurücklegen. Der Weg beginnt nicht mit festgelegten Formulierungen, sondern mit religiösen Erfahrungen, die eine Deutung brauchen. Erst dann können Menschen in das Glaubensbekenntnis einstimmen. Wer sich seinem inneren religiösen Erfahrungsraum annähert, hat zuerst eine Geisterfahrung, die dann zu Jesus führt, wenn die Kirchenleute wie Paulus diese Geisterfahrung aufgreifen. Das mit einem Fragebogen abzufragen, heißt, Viele, die noch nicht ein formuliertes Glaubensbekenntnis erreicht haben, werden die Aussage eines Fragebogens nicht ankreuzen.

Die Predigten deuten die religiösen Erfahrungen nicht: Das geschieht auch nicht in den üblichen Predigten. Diese erklären den Evangelientext, der für den Sonntag vorgesehen ist oder nur eine Aussage aus der Bibel. Damit werden nicht die Geisterfahrungen aufgegriffen. Die Zuhörer müssen sich in eine ganz andere Kultur hineindenken, weil entsprechend der Bibelwissenschaft die Texte aus der damaligen Kultur und nicht in Bezug auf die Erfahrungen heute gedeutet werden. Die Menschen brauchen jedoch eine Erklärung der Gegenwart und ihrer religiösen Erfahrungen in der heutigen Kultur. In den Gesangbüchern beider Kirchen finden sich hauptsächlich Melodien des 16. und 17. Jahrhunderts.

Es gibt sicher noch andere Eigenarten beider Kirchen, die sie nicht mehr an den tiefergehenden Erfahrungen der Zeitgenossen andocken lässt. Dass die Religion aus dem Horizont der Menschen verschwinden wird, scheint unwahrscheinlich. Sie bildet sich in der magischen Phase des Kleinkindes und muss aber dann über mehrere Krisen in den Erwachsenenglauben gelangen.

Vom Kinderglauben zum Erwachsenenglauben

Die Unsicherheit, wie die höhere Macht mit dem eigenen Leben zusammenhängt, ist für Kinder in der magischen Phase fraglos. Allerdings entspricht ihre Vorstellungswelt eher der Religiosität des Alten Testaments. Fritz Oser hat gezeigt, wie sich diese Religiosität durch Krisen des Gottesbildes weiterentwickelt und dafür plädiert, diese Krisen zu thematisieren, um zu einem neuen Gottesbild zu kommen. Für die Heranwachsenden kommen beängstigende Erkenntnisse der Kosmologie hinzu. Wenn Schüler hören, dass es Milliarden Milchstraßen gibt, die aus einem raumlosen Punkt mit dem Big Bang entstanden sind, werden kindliche religiöse Vorstellungen fraglich. Fraglich wird auch die Gottesvorstellung der vorausgegangenen Generationen. Wird Gott nicht wie im Hinduismus zu einem Teil dieses riesigen Weltalls oder haben die Prediger eine Vorstellung im Hinterkopf, die Gott größer denkt als ein Kosmos, der sich auch noch ausdehnt? Wenn man bedenkt, dass für die Griechen Zeus und seine Familie auf einem benachbarten Berg „wohnte“, soll der Gläubige heute Gott größer denken als das riesige Weltall. Die Bedrohungen durch Finanzkrisen und immer neue Kriege machen die Versprechungen der Kirche, Gott sei den Menschen nahe, eher unglaubwürdig.

Nicht dem Verdunsten des Religiösen das Wort reden

Die Befragung sollte nicht so interpretiert werden, dass die Deutschen auf eine Gesellschaft bauen wollen, die von Religiosität "desinfiziert" wurde. Diese Gesellschaft hat keine neuen Antworten auf die Fragen, denen sich die Religion eigentlich stellt. Dass die Theologie beider Kirchen das nicht mehr verspricht, zeigt sich an der Generation Z. Diejenigen, die in diesen Jahren Abitur machen, wählen fast nicht mehr Theologie als Studienfach. Wenn man sie fragt und nicht bloß Statements ankreuzen lässt, äußern sie sich positiv zum Christentum, mit der Einschränkung allerdings, es sei für frühere Generationen sehr hilfreich gewesen, die neue Kultur, die im Werden sei, brauche eine neue Weltanschauung. Damit machen sie eine wichtige Aussage über Theologie wie Philosophie: Beide sind vom Menschen "gemacht" und kann deshalb in Prüfungen abgefragt werden. Wenn die Menschenwelt sich ändert, gibt es neue Intuitionen, wie das in den Ahnungen und Erfahrungen sich zeigende religiöse Phänomen gedeutet werden kann. Ich bin gespannt, was die Zwanzigjährigen wie auch die Dreißigjährigen über Religiosität herausfinden werden. Nach den Umfrageergebnissen werden sie das erst einmal nicht in den Kirchen versuchen.

Gottesdienste in der Katholischen Kirche: Sie wirken oft abgestanden, ohne etwas Besonderes auszustrahlen. Das war in den siebziger und auch noch achtziger Jahren anders. Noch davor hatte die Messe eine heilige Aura. Die Gläubigen konnten nur bis zur Kommunionbank vorgehen und haben kniend die Hostie empfangen. Diesen Charakter hat die Messe verloren. Das korrespondiert mit der Architektur. Wenn man heute bei einem Rundgang durch eine Stadt Hausfassaden betrachtet, dann wirken die aus den sechziger und siebziger Jahren unscheinbar, während die Altbauten meist in neuem Glanz erstrahlen. Auch die heute nicht mehr gefeierte, sondern eher absolvierte Liturgie ist in diesen Jahren entstanden und wirkt wie deren Architektur. Weder die Häuser noch die Liturgie sind offen für Kunst.

Ein Blick nach Rom zeigt, dass Erfahrungen das Medium sind, in dem man auf den Geist stößt. Der Papst beginnt jeweils mit einem Erfahrungsaustausch, der dauerte bei der Synode über die Familie eine Woche. Jeder in der Sprachgruppe erzählte den anderen seine eigene Familiengeschichte. Das schafft den Humus, auf dem Neues entstehen kann. Erfahrungen lösen auch das Autoritätsproblem, denn nicht mehr nur ein Prediger erklärt den Gläubigen, was zu glauben ist, sondern die Gläubigen erzählen sich untereinander, wie glauben „geht“. Das typische Rechthabenwollen in streng religiösen Gruppen hat da viel weniger Entfaltungsmöglichkeiten.

© Eckhard Bieger S.J.

Literaturhinweis: Die religiöse Entwicklung hat Fritz Oser parallel zu den Forschungen von Piaget zur kognitiven und von Kohlberg zur moralischen Entwicklung mit sehr intelligenten Untersuchungsmethoden erforscht. Wer diese Ergebnisse studiert hat, wird nicht mehr mit einem einzigen Fragebogen alle Bürger „über einen Kamm scheren“. Fritz Oser, Paul Gmünder: „Stufen des religiösen Urteils“. Der amerikanische Autor James Fowler hat in gleicher Richtung Studien betrieben


Kategorie: Kirche

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